Anliegen & Ziele

In Fachkreisen ist es ein offenes Geheimnis, dass die Mutterschaftsbetreuung in der Schweiz einige grundlegende systemische Mängel aufweist. Bisher ist es nicht gelungen, die nötigen Weichen neu – und besser! – zu stellen.

Das Anliegen der IG nachhaltige Geburtshilfe (IG NGH) ist es, bestehende systemische Mängel zu beheben und die Schweizer Geburtshilfe nachhaltiger zu gestalten. Als breit abgestütztes Gremium wollen wir dazu beitragen, die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine frauenzentrierte[i] und nachhaltige[ii] Gesundheitsversorgung während Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Stillzeit zu schaffen.

Ziele der IG NGH

Insbesondere setzen wir uns ein für:

  • Eine frauenzentrierte Geburtshilfe, die kinder- und familienfreundlich ist. Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Stillzeit haben neben der körperlichen auch psychologische, emotionale und seelische Komponenten[iii] und sollten entsprechend begleitet werden, damit Mütter und Kinder gestärkt daraus hervorgehen.
  • Echte Wahlfreiheit zwischen den verschiedenen Betreuungsmodellen. Die Wahlfreiheit der Frauen ist gemäss dem Autonomieprinzip zu respektieren. Frauen sollen in der selbstbestimmten Entscheidungsfindung gestärkt und ergebnisoffen beraten werden.
  • Eine salutogene Geburtshilfe, die Schwangerschaft und Geburt als natürliche Lebensprozesse versteht und die Erhaltung bzw. Förderung von Gesundheit ins Zentrum stellt. Aus salutogener und finanzieller Sicht überwiegen die Vorteile hebammengeleiteter Modelle[iv]. Hebammengeleitete Geburtshilfe wird in der Schweiz angeboten von freiberuflichen Hebammen (Hausgeburt), Geburtshäusern (als eigenständige Leistungserbringer gemäss Art. 55a KVV) sowie von Spitälern, welche sich im Rahmen ihres bestehenden Leistungsauftrags dafür entscheiden, hebammengeleitete Betreuungsmodelle anzubieten.
  • Eine bezahlbare Geburtshilfe, die volkswirtschaftlich und individuell tragbar ist. In der Schweiz wird eine steigende Anzahl Geburten operativ beendigt (Link Bundesamt für Statistik; die WHO empfiehlt max. 10-15% Kaiserschnitte[vi]). Die hohen Interventions- und Kaiserschnittraten haben ihren Preis: Steigende Gesundheitskosten und Versicherungsprämien, mehr Folgekomplikationen sowie unerwünschte gesundheitliche Langzeitfolgen für Mutter und Kind[vii].
  • Eine Korrektur der bestehenden finanziellen und systemischen Fehlanreize. Für mehr Nachhaltigkeit in der Geburtshilfe sind Gleichwertigkeit, Fairness und Partnerschaftlichkeit zwischen den verschiedenen Leistungserbringern zentrale Erfolgsfaktoren, wie Best Practice-Modelle belegen [viii].

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Quellenverweise & Links

[i] Frauenzentriert heisst ” bewusst für die Bedürfnisse von Frauen entwickelt” (Landtag Nordrhein-Westfalen 2004 :44). Der internationale Hebammenkodex hält diesbezüglich fest: „II.D. Hebammen gehen bei den Frauen, die ihre Unterstützung suchen, auf deren psychologische, physische, emotionale und spirituelle Bedürfnisse ein, wie auch immer die Umstände sein mögen.“

[ii] Nachhaltig wird als Leitbegriff gemäss dem Positionspapier „Nachhaltige Medizin“ (2012) der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) verwendet. Darin fordert die SAMW: Nachweisbaren Nutzen, finanzielle Tragbarkeit, realistische Erwartungen an die Medizin, nationales Finanzierungssystem sowie partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen (inkl. Sicherung von Nachwuchs u.a. durch angepasste Tarif- und Lohnstrukturen). In der Geburtshilfe bedeutet „nachhaltig“ eine gesundheitsfördernde Versorgung, die kurz- und langfristig positive Auswirkungen auf die Gesundheit von Frauen, Kindern und Familien hat.

[iii] Vgl. auch Akademie Menschenmedizin, der die „Einheit von Körper, Seele und Geist“ ein Anliegen ist.

[iv] „Interventionen ohne (Mehr-)Nutzen sind nicht einfach nutzlos, vielmehr können sie gefährlich sein, indem sie Nebenwirkungen bzw. Komplikationen verursachen.“, SAMW, Nachhaltige Medizin, 2012, S. 16. Die WHO schätzt die Kosten unnötiger Kaiserschnitte weltweit auf 2.32 Milliarden USD, vgl. „The Global Numbers and Costs of Additionally Needed and Unnecessary Caesarean Sections Performed per Year: Overuse as a Barrier to Universal Coverage“, World Health Report (2010). Siehe auch Sandall J, Soltani H, Gates S, Shennan A, Devane D. (2016): Midwife-led continuity models versus other models of care for childbearing women. Cochrane Database of Systematic Reviews 2016, Issue 4 oder Lothian, J. A. (2009): Safe, Healthy Birth: What Every Pregnant Woman Needs to Know. The Journal of Perinatal Education, 18(3), 48–54.

[v] Im Kanton Zürich liegt die Kaiserschnittrate sogar bei 37.19%, vgl. Bundesamt für Statistik, „Anzahl Kaiserschnitte an Entbindungen, Erhebungsjahr 2015“ sowie „Medizinische Statistik der Krankenhäuser nach CHOP“, Erhebungsjahr 2015“ (Stand: 25.11. 2016).

[vi] Vgl. Stellungnahme Marsden Wagner M.D., M.S. ehem. Director of Women’s and Children’s Health, WHO sowie „Rates of caesarean section: analysis of global, regional and national estimates“, Ana P. Betrán et al., Paediatric and Perinatal Epidemiology, vol 21, pp 98 – 113, 2007.

[vii] Vgl. Bucher (2009): „Neonatologie: Immer mehr kranke Neugeborene in der Schweiz bringen das Fass zum Überlaufen“, Schweiz. Med. Forum 2009/9, p. 20 sowie Maternal and neonatal individual risks and benefits associated with caesarean delivery, José Villar et al., BMJ 2007; 335:1025.

[viii] Birth Models That Work, Robbie Davis-Floyd et al., University of California Press, 2009, ISBN 978-0520258914.